Die Stimme des Kaliningrader Schriftstellers hat Gewicht, wenn es um die Zukunft der Stadt geht
Jurij Iwanow plädiert dafür, den Bezirk Kaliningrad zur Baltischen Republik Königsberg aufzuwerten - Foto: Henning Sietz |
Zur Zeit ist Jurij Nikolajewitsch Iwanow wieder einmal auf Deutschlandreise. Als Gast ostpreußischer Vereinigungen hält er Vorträge über die Königsberger Brücken oder über das Bild der sowjetisch geprägten Stadt nach 1945. Die schmerzliche Vergangenheit Königsbergs verschweigt er dabei keineswegs. "Viele Häuser, die man hätte wieder aufbauen können, wurden zerstört." Er verheimlicht auch nicht, daß jene, die nach 1945 in Königsberg angesiedelt wurden, Opfer des Zweiten Weltkriegs waren. "Ins nördliche Ostpreußen kamen zu neunzig Prozent Leute, deren Dörfer und Städte zerstört waren - aus dem Smolensker Gebiet, aus Nowgorod und aus Pskow, wo alles verbrannt war."
Auch Jurij Iwanow kam 1945 als Neusiedler nach Königsberg. Geboren wurde er 1928 in Leningrad auf der Petrograder Seite, wo seine Großeltern als angesehene Bäcker lebten. "Wäre die Oktoberrevolution nicht gewesen, wäre ich wohl auch Bäcker geworden", meint Iwanow. "Darüber wäre ich nicht traurig gewesen, denn ich weiß, wie gut die Brötchen waren, die meine Großeltern gebacken haben."
Iwanow hat sich nie damit abfinden können, daß die schlimme Geschichte Leningrads im Zweiten Weltkrieg, vor allem die Zeit der Blockade, bis vor wenigen Jahren unter Verschluß gehalten wurde. Nur über die heroische Seite des Widerstandes der Bevölkerung durfte berichtet werden, nicht über die menschlichen Abgründe, die Iwanow als Kind erlebte. "Es herrschte schrecklicher Hunger. Leute im Sterben aßen andere Menschen. Das war der reine Kannibalismus." Noch heute erinnert sich Iwanow an die Leichen, die überall herumlagen. "Sie waren nackt, denn man hatte ihnen die Kleider abgenommen, die auf dem Markt verkauft wurden. Die Leute lagen da und lächelten - die Ratten hatten ihnen die Lippen abgefressen."
Jurij Iwanow wurde im Winter 1942 über den Ladoga-See in das "große Land" gebracht - dorthin eben, wo keine Deutschen waren. "Meine Mutter und ich kamen in den Ural in ein Krankenhaus. Ich hatte Dystrophie, war nur noch halb am Leben. Wir waren ja eineinhalb Monate im Zug unterwegs gewesen. An jeder Station hielt der Zug, und man trug die Leichen hinaus. Dieses Bild ist mir immer noch vor Augen: Der Zug fährt aus dem Bahnhof, und neben dem Gleis liegen reihenweise die Toten."
Ende 1944 entschloß sich Jurij Iwanow, an die Front zu gehen. "Ich wollte es den Deutschen heimzahlen - für all unsere Not, für all unsere Qualen, für all unser Unglück." Da er zu jung war, steckte man ihn in ein militärisches Begräbnisorchester. "Wir sollten die Toten begraben und - nun ja - Musik dazu spielen. Unser Orchester bestand aus dreißig Leuten. Ich spielte die zweite Trommel." So folgte Jurij Iwanow den Truppen der Roten Armee nach Ostpreußen, hob riesige Massengräber aus und schlug die Trommel. Tausende Tote hat er begraben.
"Ich wollte Deutschland schrecklich gern sehen. Die Propaganda hatte uns gesagt, daß Deutschland ein armes Land sei. Und dann sahen wir diese großen Häuser. Bei uns haben russische Bauern so etwas nie gehabt. Zum Beispiel diese riesigen Viehställe. Wie gut das alles gemacht war und wie sauber. Da stand im Stall angeschrieben, welche Kuh wo stehen sollte. In einer Stadt sahen wir Einzelhäuser mit Ziegeldächern, innen schöne Möbel und Badezimmer. Wir waren erschüttert. Was wir sahen, hat unseren Haß noch vergrößert: Warum hat so ein reiches Land es nötig, unser armes Rußland zu überfallen? Was wollten sie uns wegnehmen?"
Am 11. April 1945, zwei Tage nach der Eroberung Königsbergs, traf Iwanow in der fast ganz zerstörten Stadt ein. "Königsberg brannte, der Rauch und die Asche hingen kilometerhoch über der Stadt. Wir waren am Hansaplatz und gingen zum Neuen Schauspielhaus hinüber. Dort sah ich zum ersten Mal im Leben Schiller, dessen Räuber ich vor dem Krieg gelesen hatte. Das hatte ich nicht erwartet. Das Denkmal war vollkommen heil. Auf den Sockel hatte jemand in Russisch geschrieben: 'Nicht erschießen, das ist ein Dichter'."
Nach dem Krieg lernte Jurij Iwanow ein deutsches Mädchen kennen und lieben. Sie hieß Charlotte und ist der beste Beweis, daß die Nachkriegszeit für die Deutschen in Königsberg nicht nur Unheil und Not bedeutete. "Zweimal in der Woche trafen wir uns zum Tanz im Tiergarten. Ich mochte sie sehr, aber plötzlich blieb sie weg. Im Dezember 1945, als schrecklicher Frost herrschte, traf ich sie zufällig auf der Straße wieder. Sie war in einem schlimmen Zustand. Ich nahm sie zu uns nach Hause mit und brachte sie im ersten Stock in einem Zimmer unter, in dem früher wohl das Dienstmädchen gewohnt hatte. Dann kam Vater nach Hause und machte eine fürchterliche Szene. Damals war allen Offizieren der Kontakt mit der deutschen Bevölkerung verboten."
Am 11. September 1945 begann für Jurij Iwanow wieder die Schule. Der ehemalige Begräbnismusiker kam in die neunte Klasse der Neuen Burgschule, die fortan Erste Königsberger Oberschule genannt wurde. "Ende September 1945 besuchte uns ein Oberst, der alle in Reih und Glied antreten ließ", erinnert sich Iwanow. "Wir standen vor der Schule, an deren Eingang vier Büsten angebracht waren. Der Oberst rief den Direktor der Schule zu sich und befahl, die Köpfe abzuschlagen. Ich habe dabei die Leiter gehalten, die Köpfe warfen wir in einen Bombentrichter. Das sonderbare war, daß keiner wußte, wer das war."
Es waren Kopernikus, Kant, Herder und Corinth, entworfen von Stanislaus Cauer, wie Iwanow erst vor wenigen Jahren erfahren hat. Iwanow, der inzwischen begonnen hatte, sich für Ostpreußen und seine Geschichte zu interessieren, hat sich später oft zu erinnern versucht, wo der Bombentrichter gewesen sein könnte. "Aber es fiel mir nicht mehr ein, dort hat sich zuviel verändert."
Wenn heute die starken Zerstörungen Königsbergs angesprochen werden, ist Jurij Iwanow der letzte, der das nicht beklagen würde. Andererseits weiß er: "Eine ganze Reihe von Gebäuden und Häusern ist erhalten geblieben. Und das war schon schwierig genug. Der frühere Vorsitzende des Stadtsowjets, Viktor Denissow, hat viele Gebäude retten können, obwohl es den Befehl gab, sie ganz abzureißen, zum Beispiel die Luisenkirche und die katholische Kirche auf dem Oberhaberberg. Einige Deutsche beschweren sich, daß die Luisenkirche heute ein Puppentheater ist. Wir standen damals aber vor der Entscheidung: entweder ein Puppentheater oder der Abriß." So konnte Denissow auch den Königsberger Tiergarten wieder herrichten und die Stadthalle aufbauen lassen, in der heute das Museum für Geschichte und Kunst untergebracht ist. "Außerdem baute Denissow auch die Kaliningrader Kunstgalerie. Das hat man seinerzeit vertuschen müssen: Es hieß immer, da würden ein Geschäft und eine Lagerhalle gebaut. Man hat die Parteiführung belogen, und dafür wurde Denissow Mitte der achtziger Jahre von seinem Posten entfernt."
Für die nächste Zeit stehen in Königsberg große Veränderungen an. Iwanow plädiert dafür, daß der Kaliningradskaja Oblast zu einer Baltischen Republik Königsberg aufgewertet wird - mit größeren Rechten als bisher. Die Freihandelszone Jantar (Bernstein) ist beschlossene Sache, über den Namen der Stadt stimmen die Einwohner vermutlich noch in diesem Herbst ab. "Wie die Stadt auch heißen mag, sie wird trotzdem Königsberg bleiben. Aber unser Königsberg", versichert Iwanow, "nicht ein deutsches Königsberg."
Ein wenig beunruhigt ihn Litauen, das zwischen dem Königsberger Gebiet und Rußland liegt. Unruhe kommt auch bisweilen aus Deutschland. Der ehemalige Eigentümer seines Hauses in der Steffeckstraße teilte ihm vor kurzem klipp und klar mit: "Wir werden zurückkommen." Als Beweis der alten Eigentumsverhältnisse gab der Mann kund, daß die vierte Stufe zum ersten Stock des Hauses knarrt. "Wenn ich nun die Treppe hinaufsteige", erzählt Jurij Iwanow, "lausche ich immer, ob die Stufe knarrt. Sie knarrt jedesmal."